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Kirchengericht:Kirchliches Verfassungs- und Verwaltungsgericht der EKHN
Entscheidungsform:Urteil (rechtskräftig)
Datum:27.02.1976
Aktenzeichen:KVVG II 1/76
Rechtsgrundlage:Art. 48 GG; Art. 13,48 KO; §§ 17,24,25,30 PfG; § 17 KVVG; § 114 VwGO
Vorinstanzen:
Schlagworte:, Antifaschismus, Beurlaubung, Ermessensentscheidung, Ermessensfehlgebrauch, Ermessensüberschreitung
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Leitsatz:

Die Überprüfung von Ermessensentscheidungen gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 2 KVVG (hier Ablehnung des Antrags eines Pfarrers auf zweijährige Beurlaubung) erstreckt sich nicht nur auf Ermessensüberschreitungen, sondern auch auf Ermessensfehlgebrauch.

Tenor:

Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Die Entscheidung ergeht gerichtskostenfrei; die außergerichtlichen Kosten trägt der Beschwerdeführer.
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Tatbestand:

Der Beschwerdeführer ist Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau.
Im August vergangenen Jahres stellte er den Antrag, ihm nach Beendigung seines Dienstauftrags bei der Evangelischen C-gemeinde C., also ab 1. September 1975, für die Dauer von zwei Jahren ohne Bezüge zu beurlauben, damit er in dieser Zeit eine Leitungsfunktion im Präsidium der Vereinigungen der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN) wahrnehmen könne.
Die Beschwerdegegnerin lehnte diesen Antrag in ihrer Sitzung vom 22. September 1975 ab. Zur Begründung wurde dem Beschwerdeführer zunächst in einem Schreiben vom 26. September 1975 mitgeteilt: Nach bestehender Praxis würden Beurlaubungen von Pfarrern nur für bestimmte Bereiche kirchlicher Tätigkeit vorgenommen. Beurlaubungen darüber hinaus für einen Dienst in anderen Bereichen gehörten nicht zur Praxis der Kirche und seien auch im Hinblick auf den akuten Pfarrermangel nicht möglich.
In einem weiteren Schreiben vom 16. Oktober 1975, das mit einer Rechtsmittelbelehrung gemäss § 30 Abs. 1 Pfarrergesetz versehen wurde, ergänzte sie diese Begründung wie folgt: Bei der nach § 17 Abs. 1 Satz 1 des Pfarrergesetzes in ihrem pflichtgemäßen Ermessen stehenden Entscheidung über einen Beurlaubungsantrag lasse die Kirchenleitung sich in erster Linie von ihrer Verantwortung für die ausreichende geistliche Versorgung der Gemeinden leiten. Im Hinblick auf diese Verantwortung habe sie z. B. die Zahl der für den Auslandsdienst freigestellten Pfarrer und Pfarrvikare auf 20 begrenzt. Wenn schon die Beurlaubung für einen kirchlichen Dienst wegen der angespannten Personallage eingeschränkt werden müsse, so gelte das erst recht für die Beurlaubung für einen sonstigen von der Kirchenleitung anerkannten Dienst. Dabei beziehe sich die Anerkennung der Kirchenleitung nach dem Sinn der Vorschrift nicht abstrakt auf die Tätigkeit in einer außerkirchlichen Einrichtung, sondern nur auf den Dienst gerade eines Pfarrers in dieser Einrichtung. Die Tätigkeit der Einrichtung könne als solche kirchlich anerkannt sein, ohne dass die Beurlaubung eines Pfarrers dafür in Betracht komme. Dies gelte z. B. für politische Parteien oder Gewerkschaften. Die Kirchenleitung habe deshalb schon aus Rechtsgründen dem Antrag nicht stattgeben können.
Gegen die Entscheidung der Beschwerdegegnerin erhob der Beschwerdeführer mit Schreiben vom 31. Dezember 1975, bei Gericht eingegangen am 2. Januar 1976, Beschwerde.
Zur Begründung seiner Beschwerde führt er aus:
Er könne beim besten Willen nicht einsehen, warum seine geplante Tätigkeit im Präsidium der VVN/BdA nicht unter kirchlichen Gesichtspunkten notwendig und wichtig erscheine. Es wolle ihm weiter nicht einleuchten, warum er nicht als Pfarrer der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau mit den Rechten des geistlichen Standes in der größten bundesdeutschen Organisation der Naziopfer und der Antifaschisten tätig sein dürfe.
Es müsse doch auch für die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau notwendig und wichtig sein, dass die Tradition des antifaschistischen Widerstandes, damit auch die Tradition der Bekennenden Kirche aktuell und aktiv gesellschaftlichen Kontext fortgeführt werde. Andernfalls würde die Berufung auf die Theologische Erklärung von Barmen, die konstitutives Element des Grundartikels zur Kirchenordnung der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sei, zu einem bloß formalen, inhaltlich aber leeren Akt. Er sei ausdrücklich auf die Theologische Erklärung von Barmen ordiniert worden. Darum sei für ihn auch eine antifaschistische Arbeit Erfüllung seines Ordinationsgelübdes. Nicht Antifaschist zu sein, bedeute für ihn Aufkündigung des Glaubensgehorsams und Annullierung der während des Naziregimes von der Bekennenden Kirche gewonnenen theologischen und politischen Erfahrungen und Erkenntnisse. Glaubensgehorsam lasse sich aber nicht nur in einem unmittelbar kirchlichen Amt realisieren, sondern eben auch in einer Tätigkeit, wie er sie zeitweilig ausüben möchte. Das müsse auch das Verständnis, ja die aktive Zustimmung der Kirche finden.
Die VVN/BdA sei eine parteiunabhängige und weltanschaulich neutrale Organisation, in der Menschen sehr unterschiedlicher Herkunft, Überzeugung und Zielvorstellung im antifaschistischen, also im realhumanistischen Geist zusammenwirkten. Dazu gehörten Christen beider Konfessionen. So sei der gegenwärtige Präsident der katholische Theologe D. Einer der Vizepräsidenten sei der evangelische Theologieprofessor E. Der frühere Kirchenpräsident Martin Niemöller sei u.a. Ehrenpräsident des Hessischen Landesverbandes der VVN/BdA. Die Beschwerdegegnerin treffe alle diese Menschen mit ihrer negativen Entscheidung. Denn auch ihre antifaschistische Tätigkeit erscheine unter kirchlichen Gesichtspunkten nicht notwendig und wichtig.
Darüber hinaus trenne sich die Beschwerdegegnerin mit ihrer Entscheidung von der antifaschistischen Tradition innerhalb der Kirche. Männern wie Dietrich Bonhoeffer, Paul Schneider und Helmuth Graf von Moltke folgend, sehe er eine antifaschistische Arbeit in der Nachfolge Christi, also als eine heutige, genuin kirchliche Aufgabe.
Die Entscheidung der Kirchenleitung lasse jede theologisch inhaltliche Begründung vermissen, wenn sie, ohne dass eine theologische Reflexion erkennbar werde, behaupte, zwischen der von ihm angestrebten antifaschistischen Arbeit und dem Auftrag eines Pfarrers bestehe kein "innerer Bezug". Einen solchen Bezug zu bestreiten, bedeute in der Konsequenz, die Substanz des Evangeliums auszuhöhlen. Antifaschistisches Denken und Handeln stünden in einem unauflöslichen Zusammenhang mit Grund, Inhalt und Ziel des Evangeliums, allerdings nicht in zeitloser, sondern in konkret geschichtlicher Weise. In Jesus Christus sei die Umkehr des Menschen aus aller Unmenschlichkeit, bedingt durch die Trennung von Gott, vollzogen; sei die Wiederherstellung des Menschen zum Ebenbild Gottes geschehen; sei die Versöhnung des Menschen mit Gott und mit den Mitmenschen realisiert worden. Faschismus, in allen seinen Erscheinungsformen, sei die Negation des Menschen, sei die organisierte Unmenschlichkeit. Antifaschismus hingegen sei immer die aktive Parteinahme für den Menschen und seine Menschlichkeit. Für Christen sei deshalb die Affinität des Antifaschismus zum Evangelium eindeutig. Für einen Pfarrer, der Jesus Christus verkündige, sei in dieser Verkündigung auch antifaschistisches Engagement inkludiert. Es bestehe also ein sehr enger "innerer Bezug" zwischen dem Auftrag eines Pfarrers und einer direkt antifaschistischen Arbeit. Eine Verkündigung, eine Theologie, eine Seelsorge, die zum Faschismus tendiere, ihn fordere oder ermuntere, könne sich niemals auf das Evangelium berufen. Faschismus und Evangelium schlössen sich aus. Es gebe folglich keinen ernsthaften theologischen Grund, den Dienst gerade eines Pfarrers in einer antifaschistischen Organisation nicht kirchlich anzuerkennen.
Für Pfarrer eine antifaschistische Arbeit in einer außerkirchlichen Einrichtung ausschließen zu wollen, sei überdies eine Begrenzung der Gewissensfreiheit. Wenn sich ein Pfarrer, getragen vom Geist des Evangeliums, für eine konkrete antifaschistische Arbeit entscheide, sei es für eine Kirchenleitung, lasse sie sich von demselben Geist leiten, unmöglich, ihm diese Arbeit zu verbieten, indem sie ihn als Pfarrer nicht dafür freistelle. Das wäre eine unzulässige Bindung des Gewissens.
Die Voraussetzungen, unter denen ein Pfarrer nach § 17 des Pfarrergesetzes beurlaubt werden könne, seien im übrigen durch das Kirchengesetz vom 13. November 1974 erweitert worden. Während früher Voraussetzung für eine Beurlaubung ein von der Kirchenleitung gebilligter "Auftrag" gewesen sei, sei es nunmehr ein von der Kirchenleitung anerkannter "Dienst". Dienst sei hier im Sinne von Diakonie, also dem Dienst am Nächsten zu verstehen.
Die Kirchenleitung könne sich gegenüber seinem Beurlaubungswunsch auch nicht auf den bestehenden Pfarrermangel berufen, da in dem Schreiben der Kirchenverwaltung vom 27. August 1975 ihm sogar anheimgestellt worden sei, einen Antrag auf Entlassung aus der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu stellen. Im übrigen stelle die Kirchenleitung Pfarrer auch für andere außerkirchliche Tätigkeiten frei (z. B. für die Übernahme eines Bundestagsmandats).
Der Beschwerdeführer beantragt,
den Bescheid der Kirchenleitung vom 22. September 1975 aufzuheben.
Die Beschwerdegegnerin beantragt,
die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.
Sie führt aus, die Beschwerde sei zulässig, aber nicht begründet.
Ein Pfarrer habe nach § 17 Abs. 1 des Pfarrergesetzes keinen Anspruch auf Beurlaubung. Die Kirchenleitung habe vielmehr nach pflichtgemäßem Ermessen über eine Beurlaubung zu entscheiden und dabei in erster Linie ihre Verantwortung für die ausreichende kirchliche Versorgung der Gemeinden zu beachten. Im vorliegenden Fall habe die Kirchenleitung jedoch gar keinen Ermessensspielraum für ihre Entscheidung gehabt. Sie habe der Antrag ablehnen müssen, weil die von dem Beschwerdeführer beabsichtigte Tätigkeit nicht als "sonstiger von der Kirchenleitung anerkannter Dienst" im Sinne von § 17 Abs.1 Pfarrergesetz anzusehen sei. Nach ihrem Zweck wolle die genannte Vorschrift nur eine Beurlaubung aus dienstlichen Gründen zulassen. Die erforderliche Anerkennung durch die Kirchenleitung könne sich daher nicht abstrakt auf die Tätigkeit einer außerkirchlichen Einrichtung beziehen, sondern nur auf den Dienst gerade eines Pfarrers in dieser Einrichtung. Die Tätigkeit der Einrichtung könne als solche ohne weiteres kirchlich anerkannt sein, ohne dass die Beurlaubung eines Pfarrers dafür in Frage komme. Maßstab für die Anerkennung des Dienstes eines Pfarrers in einer außerkirchlichen Einrichtung sei der innere Zusammenhang mit dem durch die Ordination erteilten Auftrag des Pfarrers, wie ihn Artikel 13 Abs. 1 der Kirchenordnung als „kirchlich geordneten öffentlichen Dienst am Wort in Verkündigung und Sakramentsverwaltung“ beschreibe, der „besonders in Gottesdienst, Seelsorge und Unterweisung auszurichten“ sei. Im vorliegenden Fall sei ein solcher innerer Bezug zum Auftrag des Pfarrers in keiner Weise erkennbar.
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Entscheidungsgründe:

Die Beschwerde ist nach den Vorschriften des § 30 Abs. 1 Pfarrergesetz zulässig. Sie richtet sich gegen eine Entscheidung der Kirchenleitung auf Grund des Pfarrergesetzes, die mit der Ablehnung des Antrags auf Beurlaubung nach § 17 dieses Gesetzes die Rechtsverhältnisse des Beschwerdeführers beeinträchtigt. Der Beschwerdeführer ist antragsberechtigt, weil durch den angefochtenen Beschluss seine rechtlichen Interessen berührt werden. Die Beschwerde ist auch fristgerecht eingelegt worden, da sie innerhalb von drei Monaten seit dem Zugang der Rechtsmittelbelehrung vom 16. Oktober 1975 bei Gericht eingegangen ist.
Die Beschwerde ist jedoch nicht begründet.
Auf das Beschwerdeverfahren nach § 30 Pfarrergesetz finden die Vorschriften des Kirchengesetzes über das Kirchliche Verfassungs- und Verwaltungsgericht (KVVG) Anwendung (§ 30 Abs. 1 Satz 5 Pfarrergesetz).Nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 KVVG können Ermessensentscheidungen, wenn sie angefochten werden, von dem Gericht nur darauf überprüft werden, ob die Grenzen des pflichtgemäßen Ermessens eingehalten sind. Trotz des von § 114 VwGO abweichenden Wortlauts kann das Gericht hiernach Ermessensentscheidungen der Beschwerdegegnerin nicht nur auf Ermessensüberschreitungen, sondern auch auf Ermessensfehlgebrauch überprüfen. Die angefochtene Entscheidung lässt jedoch keinen solchen Ermessensfehler erkennen.
Auch wenn ein Pfarrer für einen von der Kirchenleitung anerkannten Dienst beurlaubt werden möchte, liegt es nach § 17 Abs. 1 Satz 1 Pfarrergesetz im pflichtgemäßen Ermessen der Kirchenleitung, ob sie einem entsprechenden Antrag stattgeben will. Die Kirchenleitung hat im vorliegenden Fall die Ablehnung des Beurlaubungsantrags des Beschwerdeführers insoweit u.a. damit begründet, dass Beurlaubungen für einen Dienst in einem außerkirchlichen Bereich im Hinblick auf den akuten Pfarrermangel nicht möglich seien. Diese Begründung trägt bereits für sich allein den angefochtenen Bescheid. Es ist die Pflicht der Kirchenleitung, bei Entscheidungen nach § 17 Pfarrergesetz in erster Linie ihre Verantwortung für die ausreichende geistliche Versorgung der Gemeinden (Artikel 48 Abs. 2a KO) zu beachten. Die Kirchenleitung hält sich somit bei dem hier genannten Grund für die Ablehnung des Beurlaubungsantrags des Beschwerdeführers im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens.
Die Kirchenleitung durfte sich bei ihrer Entscheidung auch nicht etwa deshalb nicht auf den bestehenden Pfarrermangel berufen, weil die Kirchenverwaltung dem Beschwerdeführer in ihrem Schreiben vom 27. August 1975 anheimgestellt hatte, einen Antrag auf Entlassung aus der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zu stellen. Abgesehen davon, dass dieser Hinweis nicht von der Kirchenleitung, sondern vom Leitenden Geistlichen Amt, und zwar einen Monat vor der Entscheidung der Kirchenleitung gegeben worden ist, zeigte er dem Beschwerdeführer lediglich eine rechtliche Möglichkeit auf, die von ihm angestrebte Übernahme einer leitenden Funktion im Präsidium der VVN zu erreichen. Der Hinweis nimmt der Beschwerdegegnerin nicht die Möglichkeit, den Beurlaubungsantrag wegen des bestehenden Pfarrermangels abzulehnen, wenn der Beschwerdeführer im Dienst der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau bleibt.
Die Kirchenleitung hat bei ihrer Entscheidung auch nicht den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt. Die Beurlaubung eines Pfarrers, der für den Bundestag kandidiert (§ 24 Abs. 2 Pfarrergesetz), und seine Versetzung in den Wartestand mit Annahme einer Wahl in den Bundestag (§ 25 Abs. 1 Pfarrergesetz) tritt kraft Gesetzes ein, beruht also nicht auf einer Ermessensentscheidung der Beschwerdegegnerin. Im übrigen lässt sich die Übernahme eines staatspolitisch so wichtigen Amtes wie das des Bundestagsabgeordneten auch nicht mit dem von dem Beschwerdeführer angestrebten Amt vergleichen. Dies ergibt sich auch aus Artikel 48 Abs. 1 und 2 GG, ohne dass hier entschieden zu werden braucht, ob die hier geregelten verfassungsrechtlichen Ansprüche auch für Pfarrer gelten.
Trägt hiernach die Tatsache des akuten Pfarrermangels für sich allein die angefochtene Entscheidung, so braucht das Gericht nicht darüber zu befinden, ob die Erwägungen frei von Rechtsirrtümern sind, die die Beschwerdegegnerin zur Frage einer Anerkennung der von dem Beschwerdeführer angestrebten Tätigkeit als Dienst im Sinne von § 17 Pfarrergesetz angestellt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 33, 35 KVVG, § 91 ZPO.