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Kirchengericht:Kirchliches Verfassungs- und Verwaltungsgericht der EKHN
Entscheidungsform:Kostenbeschluss (rechtskräftig)
Datum:25.11.1982
Aktenzeichen:KVVG I 4/82
Rechtsgrundlage:§ 11 DSO; § 38 KVVG; § 161 VwGO
Vorinstanzen:
Schlagworte:, Dekanewahlen, Gültigkeit der Wahl, Kostenbeschluss, Kostenentscheidung, Personalaussprache, Rednerliste, Schluss der Rednerliste, Wahlanfechtung, Wahlprüfungsverfahren
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Leitsatz:

Werden in einer Personalaussprache in Abwesenheit des Wahlkandidaten Vorwürfe erheblicher Art gegen den Kandidaten erhoben, so muss diesem vor Durchführung der Wahl Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden, wenn die Vorwürfe bisher nicht dem Wahlgremium bekannt oder vor einem größeren Kreis vorgetragen wurden und wenn sie in der Personalaussprache nicht durch Beiträge anderer ausgeräumt werden.
Ein Vorwurf ist in der Regel von erheblicher Art, wenn er Anlass zu strafrechtlichen oder disziplinarischen Ermittlungen geben könnte.
Bestätigung und Ergänzung des Urteils vom 19.2.1963 (Nr.11 der Entscheidungssammlung).

Tenor:

Nachdem die Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt worden ist, werden die Kosten des Rechtsstreits der Beklagten auferlegt.
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Gründe I:

Die Synode des Evangelischen Dekanats B trat am 2. Juni 1982 zur Wahl eines neuen Dekans zusammen. Als Kandidaten waren von der Kirchenleitung im Einvernehmen mit dem Dekanatssynodalvorstand die Pfarrer I. und A. vorgeschlagen worden. Auf Antrag fand eine Personalaussprache in Abwesenheit der Kandidaten statt. In ihr wurden u. a. von Pfarrer J. kritische Äußerungen bezüglich Pfarrer A. vorgetragen.
Pfarrer J. sagte (gemäß seiner Erklärung an die Kirchenverwaltung vom 19.7.1982, in der er seinen Beitrag während der Aussprache aus dem Gedächtnis wiedergab), Pfarrer A. habe während einer Pfarrerfortbildung mit Pfarrern des Dekanats in F intime Dinge über einen dort nicht anwesenden Pfarrer des Dekanats erzählt, die nur er gewusst habe und die er zu dem Zweck erzählt habe, um sich mit den anderen über den Betroffenen lustig zu machen. Er, Pfarrer J., habe daraus geschlossen, dass auch er einmal zu solch einem Erzählgegenstand zu seinem Schaden werden könne, da Pfarrer A. als Dekan und damit als sein, Pfarrer J., Seelsorger ja eher als andere auch seine Schwächen mitbekomme.
Diese Äußerung Pfarrer J. führte zu einer gewissen Erregung und Unruhe in der Synode; nach weiteren Beiträgen wurde von dem Synodalen D. der Antrag auf Schluss der Aussprache (oder Schluss der Debatte) gestellt. Der Vorsitzende der Dekanatssynode wies darauf hin, dass nur die Rednerliste geschlossen werden könne; gemäß seiner Erklärung an das Gericht vom 6.11.1982 kann er sich nicht entsinnen, ob er dabei den § 11 Abs. 3 DSO, der nur einen Antrag auf Schluss der Rednerliste vorsieht, „expressis verbis“ genannt hat. Der Antrag wurde mit fünf Gegenstimmen und einer Enthaltung angenommen.
Ob danach noch weitere Synodale zu Wort kamen, geht aus dem Protokoll über die Dekanatssynode nicht hervor und ist nicht geklärt.
In der sich anschließenden Wahl wurde Pfarrer I. mit 32 von 58 abgegebenen Stimmen zum Dekan gewählt. Pfarrer A. erhielt 22 Stimmen.
Die Anfechtungskläger, die sämtlich Mitglieder der Dekanatssynode sind, haben die Gültigkeit der Wahl mit dem Vorbringen angegriffen, die Wahl sei durch verleumderische Vorwürfe gegen Pfarrer A. in unzulässiger Weise beeinträchtigt worden; es habe keine Gelegenheit bestanden, diesen Vorwürfen wirksam entgegenzutreten, insbesondere habe man Pfarrer A. nicht ermöglicht, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen. Auch sei die Personaldebatte infolge der Verwirrung der Synode zu früh abgebrochen worden. Mehreren Synodalen sei trotz heftigen Protestes nicht mehr das Wort erteilt worden. Durch die gegen Pfarrer A. erhobenen, jedoch völlig unbegründeten Vorwürfe sei die Stimmabgabe zum Nachteil von Pfarrer A. manipuliert worden; das zeigte die Äußerung des Synodalen K., der gesagt habe, wenn die schwere Anschuldigung gegen Pfarrer A. nicht aufgeklärt werde, könne er ihn nicht wählen.
Die Kirchenleitung hat die fristgerecht erhobenen Einsprüche der Anfechtungskläger unter Hinweis auf das Urteil des Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts vom 19.2.1963 als unbegründet zurückgewiesen. Hiergegen haben die Anfechtungskläger fristgerecht Klage vor dem Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgericht erhoben.
In der mündlichen Verhandlung haben die Anfechtungskläger eine schriftliche Erklärung des Pfarrers L. vom 10.11.1982 vorgelegt, in der es in Bezug auf den von Pfarrer J. in der Personalaussprache am 4. Juni 1982 erhobenen Vorwurf, Pfarrer A. habe intime Dinge über einen Kollegen erzählt, heißt:
„Es hat sich später herausgestellt, dass ich jener Kollege bin. Somit kann ich hiermit bestätigen, dass jene Geschichte sich 1960 oder 1961 während unserer Studentenzeit zugetragen hat, dass sie keinesfalls eine Vertraulichkeit beinhaltet und erst recht nicht geeignet ist, „Intimitäten“ über mich zu verbreiten oder sich über mich lustig zu machen. Den tatsächlichen Hergang der Geschichte habe ich selbst oft schon erzählt und werde dies gegebenenfalls auch wieder tun. ....“
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Gründe II:

Nach eingehender Erörterung des Sach- und Streitstandes in der mündlichen Verhandlung und nach Abgabe von Erklärungen, die geeignet erscheinen, den Frieden in der Dekanatssynode B wieder herzustellen, haben die Parteien auf Anraten des Gerichts den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt, so dass nur noch gemäß § 38 KVVG, § 161 Abs. 2 VwGO über die Kosten des Rechtsstreits zu entscheiden war.
Diese Kosten waren nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes (§ 161 Abs. 2 VwGO) der Beklagten aufzuerlegen. Die Klage hatte große Aussicht auf Erfolg.
Zwar hält das Gericht an seiner im Urteil vom 19.2.1963 (Nr. 11 der Entscheidungssammlung des Kirchlichen Verfassungs- und Verwaltungsgerichts der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau) vertretenen Auffassung fest, wonach „Äußerungen über einen Wahlkandidaten innerhalb einer in der Freiheit und der Ordnung einer Synode stattfindenden Aussprache in aller Regel der Gültigkeit der Wahl nicht in Frage stellen.“
Zur „Ordnung einer Synode“, die eingehalten sein muss, wenn kritische und unter Umständen unrichtige und nicht vertretbare Äußerungen in einer Personalaussprache keinen Wahlanfechtungsgrund abgeben sollen, gehört die Fehlerfreiheit des Verfahrensablaufs.
Im vorliegenden Fall kann dahingestellt bleiben, ob ein Verfahrensmangel etwa darin gesehen werden könnte, dass den Synodalen der Unterschied zwischen einem unzulässigen Antrag auf Schluss der Aussprache und einem gemäß § 11 Abs. 3 DSO zulässigen Antrag auf Schluss der Rednerliste vielleicht nicht genügend deutlich gemacht worden ist. Bei einem Antrag auf Schluss der Rednerliste sind bis zur Annahme des Antrages weitere Wortmeldungen zulässig, so dass diejenigen, die noch sprechen möchten, durch sofortige Wortmeldung sich ein Rederecht verschaffen können. Es kann Situationen geben, in denen der Unterschied zwischen dem Schluss der Aussprache und dem Schluss der Rednerliste näher zu erläutern ist und auf die Möglichkeit, bei einem Antrag auf Schluss der Rednerliste sich vor der Annahme des Antrages noch in diese eintragen zu lassen, hingewiesen werden muss.
Einen ins Gewicht fallenden objektiven Verfahrensfehler sieht das Gericht jedoch darin, dass zur Wahl geschritten wurde, ohne dass dem Kandidaten A. Gelegenheit gegeben wurde, zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen.
Ein derartiges Anhörungsrecht ist in der Dekanatssynodalordnung nicht vorgeschrieben, so dass dem Dekanatssynodalvorstand kein subjektives Fehlverhalten anzulasten ist. Dennoch hält das Kirchl. Verfassungs- und Verwaltungsgericht eine Anhörung des Kandidaten für geboten, wenn in einer Personalaussprache in Abwesenheit des Kandidaten Vorwürfe erheblicher Art erhoben werden, die bisher nicht dem Wahlgremium bekannt oder vor einem größeren Kreis vorgetragen wurden, und wenn diese Vorwürfe nicht in der Personalaussprache durch Beiträge anderer ausgeräumt werden.
Das Erfordernis, einem durch solche Vorwürfe betroffenen Wahlkandidaten vor der Wahl Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, ergibt sich aus dem mit Verfassungsrang ausgestatteten allgemeinen Verfahrensgebot, „rechtliches Gehör zu gewähren“. Es ergibt sich aber gleichzeitig in einer christlichen Gemeinschaft aus dem Gebot der Brüderlichkeit und des rechten Umgangs miteinander.
Im vorliegenden Fall wurden gegen Pfarrer A. schwerwiegende Vorwürfe erhoben, die seine Qualitäten als Seelsorger und seine Vertrauenswürdigkeit in Zweifel rückten. Diese Vorwürfe wurden erstmals vorgebracht, und ihnen konnte, zumal sie in ihrer Substanz vage waren, nicht von anderen Synodalen konkret entgegentreten werden. Es ist auch nicht unwahrscheinlich, dass diese nicht ausgeräumten Vorwürfe und der Umstand, dass Pfarrer A. keine Gelegenheit hatte, ihnen entgegenzutreten, die Wahlentscheidung von Synodalen beeinflusst haben. Nach allgemeinen Prozessrechtsgrundsätzen beruht eine Entscheidung schon dann auf einem vorgekommenen Verfahrensverstoß, wenn die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie ohne den Verfahrensmangel anders ausgefallen wäre.
Das Kirchliche Verfassungs- und Verwaltungsgericht ist sich bewusst, dass diese Postulierung eines Anhörungsrechts für Fälle vorliegender Art zu einer gewissen Verunsicherung bei der Abhaltung von Wahlen in Dekanatssynoden und Kirchenvorständen führen kann. Zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit besteht jedoch oftmals ein Spannungsverhältnis, und es ist in solchen Fällen in die Verantwortung des Gerichts gestellt, welchem dieser beiden hohen Werte es den Vorrang einräumt.
Das Gericht ist der Auffassung, dass es sich mit christlicher Lehre und Auffassung nicht vereinbaren ließe, wenn in einem Fall wie dem vorliegenden die Einzelfallgerechtigkeit hintenan gesetzt würde. Sich daraus vielleicht ergebende zukünftige Schwierigkeiten müssen in Kauf genommen werden. Um sie in erträglichen Grenzen zu halten, sei nochmals betont:
Nur Vorwürfe erheblicher Art können unter den zusätzlich genannten Voraussetzungen (Neuigkeit des Vorwurfs, keine sofortige Ausräumung durch andere Wortbeiträge) zu der Notwendigkeit führen, dem betroffenen Wahlkandidaten vor Durchführung der Wahl Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Ob ein Vorwurf in diesem Sinne von erheblichem Gewicht ist, ist zwar eine Frage des Einzelfalls. Man wird dies aber in der Regel bejahen müssen, wenn er Anlass zu strafrechtlichen oder disziplinarischen Ermittlungen geben könnte. Im Zweifel sollte einem von schweren Vorwürfen betroffenen Wahlkandidaten Gelegenheit zur Stellungnahme und etwaiger Gegendarstellung gegeben werden, wobei in einem vorausgehenden Appell zur Sachlichkeit darauf hingewiesen werden kann, dass eine synodale Versammlung weder ein Ort für Beweisaufnahmen noch für emotionale Konfrontationen ist, sondern auch bei unvermeidlichen Kontroversen vom Geist des Evangeliums erfüllt sein soll.